1907-1933 Vom Werkbund zum Bauhaus und zum Neuen Bauen
Wann begann die architektonische Moderne in
Deutschland? Ein Statement für die Moderne war sicherlich die Gründung des Deutschen
Werkbundes 1907 u.a. durch Henry van de Velde. Nach dem 1. Weltkrieg 1914-18 verfestigte sich in den Jahren 1918-1933
in der Weimarer Republik das moderne Bauen mit dem Bauhaus
(1919 von Walter Gropius gegründete Kunstschule in Weimar, 1925 Umzug
nach Dessau) als experimentelle Lehrstätte und das Neue Frankfurt als
erstes übergreifendes städtebauliches und soziales Projekt unter Ernst May.
Die Bewegung des Bauhaus kann auch als Gegenpart zum damaligen Heimatschutzstil
gesehen werden. Mit der Machtergreifung der Nazis 1933 war das Ende des Bauhaus
in Deutschland besiegelt.
1933-1959 Die Charta von Athen und die Folgen
1812 schrieb der bekannte Architekt Friedrich Weinbrenner für das Land Baden die erste deutsche
Denkmalschutzverordnung. 1898 propagierte der englische Hofjournalist
Ebenezer Howard die "
Garden Cities" - grüne Siedlungen am Stadtrand, die die enge und laute Stadt ablösen sollte. Auf dem IV. Kongress der CIAM (Internationaler Kongress für neues Bauen) 1933 in Athen wird Jahrzehnte später, die „
Charta von Athen“ verabschiedet. Unter der Federführung von
Le Corbusier wird damit die „
funktionale Stadt“ als Leitbild für die moderne Stadtplanung erklärt. Nach den einschneidenden Ereignissen des Zweiten Weltkrieges werden diese Konzepte der „Charta von Athen“ zur Manifestierung eines neuen, modernen Zeitalters besonders in Deutschland von den Stadtplanern und Architekten aufgegriffen. 1944 verfassten Roland Rainer, Johannes Göderitz und Hubert Hoffmann „
Die gegliederte und aufgelockerte Stadt“, das in einer neuen Buchfassung 1957 erschien. So entstanden im Zuge des Wiederaufbaus in den 50iger Jahren
gegliederte und aufgelockerte Städte.
Statt eines Wiederaufbaues findet in den meisten Fällen ein
Neuaufbau der Städte statt. Auf historische Grundrisse und deren Bauten wird dabei, bis auf Ausnahmen z.B. in Bayern, in der Regel keine Rücksicht genommen: Selbst von Kriegsschäden unversehrte Stadtquartiere werden - bis auf vorbildlich wiederaufgebaute Sakralbauten - rigoros für die modernen Reißbrett-Planungen abgeräumt. So wurden z.B. 1958 im von Kriegsbrachen übersäten
Köln - im Zuge moderner Neubaupläne - sogar die Reste des wiederaufbaufähigen Opernhauses beseitigt. In Berlin wurden
1957 zur IBA in Berlin die vorhandene Infrastruktur im
Hansaviertel mit funktionalen Bauten für eine autogerechte Stadt überbaut und in
Hamburg machte eines seiner letzten Gängeviertel in der Ulricusstraße platt. In Berlin, Potsdam und vielen weiteren Städten wurden zudem rigoros Stuckverzierungen an den Häusern abgeschlagen - ein Tribut an "die glatte Moderne" (s. dazu ein Artikel in Wikipedia zur
"Entstuckung"). 1964 startete der Architekt Düttmann den Aufruf "
Rettet den Stuck" in Berlin. Alte Gebäude hatten es nach dem Krieg schwer - selbst der Wiederaufbau des historischen
Goethehauses in Frankfurt/Main musste regelrecht von Wiederaufbau-Befürwortern erkämpft werden, denn viele sahen in einer Rekonstruktion eine "Spurentilgung" des Dritten Reiches.
Enteignungsgesetze und Wiederaufbaugesetze (Zusammenlegungen etc. - nur in Bayern fehlte ein solches Gesetz und kleinteilige Stadtparzellen konnten erhalten werden), Fehlplanungen und fehlender Sinn für den Denkmalschutz führten zu einem modernistisch geprägten Neuaufbau der deutschen Innenstädte.
Nicht besser lief es in der früheren Ostzone ab: Hier verschwanden - wie in
Jena - ganze Alstadtquartiere für sozialistische Prunkbauten und Aufmarschplätze. Adelssitze und Schlösser wurden systematisch zerstört (s.
https://de.wikipedia.org/wiki/SMAD-Befehl_Nr._209) und selbst Kirchen wurden - wie z.B. in
Leipzig und
Magdeburg - rigoros den Erdboden gleich gemacht. Darüber hinaus wurden ganze Quartiere am Mauerstreifen in
Berlin abgeräumt
1960-1975 Abrisswahn im Zeichen des Automobils
1959 verfasst Hans Bernhard Reichow unter dem Titel „
Die autogerechte Stadt. Ein Weg aus dem Verkehrs-Chaos“ ein radikales Manifest für den
„verkehrsgerechten“ Städtebau der 60iger Jahre. Es kam in diesem Zeitgeist zu weiteren unfassbaren Eingriffen ins Stadtbild – diesmal um für funktionstrennende Verkehrs-Schneisen in den Städten zu sorgen. Radikal werden Städte wie Kassel, Hamburg und Hannover als "autogerechte Städte" umgebaut. In einem wahren Abrisswahn wurden in den 60iger Jahren auch die letzten aufbaufähigen Nachkriegsruinen für kantig-moderne Architekturentwürfe geopfert: So verschwanden z.B. in Frankfurt/M. 1960 das Jugendstil-Juwel Schumann-Theater und die Jugendstilfassade des Schauspielhauses unter der Abrissbirne. In Stuttgart wurde das historisch wichtige
Kaufhaus Schocken abgerissen. Besonders für maßstabssprengende Kaufhäuser, Banken und öffentliche Gebäude wurden ganze Altstadtquartiere in den Innenstädten weggerissen. Geschliffen wurden zudem u.a. Historismus-Hotelbauten und Gaststätten, öffentliche Gebäude wie gründerzeitliche Schulen, Krankenhäuser und Gerichtsgebäude sowie Kino- und Theaterbauten. Auch viele Wohnbauten - teilweise Baudenkmäler - aus der Gründerzeit wurden nach dem Krieg geopfert, weil sie ihre ursprüngliche städtebauliche Einbindung verloren hatten.
1964 wird die Charta von Venedig veröffentlicht - der wohl weitverbreiteste Text zum Umgang mit Denkmälern und Rekonstruktionen.
Publizistischer Aufschrei und Kahlschlagsanierungen
Erste publizistische Aufschreie gegen die Stadtzerstörung gab es 1956 durch
Max Frisch und 1961 durch
Jane Jacobs "
The Death and Life of Great American Cities" (
Tod und Leben großer amerikanischer Städte, Übersetzung von Eva Gärtner 1963, Auslöser waren die Flächensanierungen durch
Robert Moses in New York), und wenige Jahre später in Deutschland durch den Publizisten Wolf Jobst Siedler, 1964 mit dem Buch "
Die gemordete Stadt" und Alexander Mitscherlich mit "
Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden", 1965. Mit
Flächen- bzw. Kahlschlagsanierungen wurden in den 60iger und 70iger viele Altstädte zerstört, wie z. B. das Altstadtviertel
Gänsberg in Fürth.
Doch trotz aller Kritik - bis Mitte der 70iger Jahren verschlangen weiterhin die Bauten und Straßen der Nachkriegsmoderne die historisch-fragmentierten Innenstädte in Deutschland. Besonders extrem waren die zu dieser Zeit geplanten Massenabrisse in Berlin die die Beseitigung von 430.000 ! Wohnungen in Betracht sah. Am 18.März 1963 wurde das erste Berliner Stadterneuerungsprogramm verkündet: Insbesondere die Altbauten in Neukölln und Wedding sollten mit Fördermillionen aus Bonn beseitigt werden. Bis 1965 wurden bereits 8.000 Wohnungen platt gemacht (s. dazu auch Artikel "Die Sanierung im Wedding" bei Berlinstreet
http://www.berlinstreet.de/ackerstrasse/acker22). Das Brunnenviertel nördlich der Bernauer Straße bis zum Gesundbrunnen wurde im Rahmen einer
Kahlschlagsanierung bis Ende der siebziger Jahre fast völlig abgeräumt. Zurück blieb eine luftig bebaute, verödete Stadtlandschaft mit Nachkriegsmietskasernen. Darüber hinaus gab es noch das "Sanierungsgebiet" Charlottenburg (Klausenerplatz), Schöneberg (Bülowstraße) und Kreuzberg (Kottbusser Tor). Berlin hatte zudem auf Grund der Wohnungsnot eine staatlich regulierte Miete eingeführt - doch diese war so niedrig, dass keine Modernisierungsmaßnahmen umgesetzt werden konnten. In Kreuzberg gab es Verfall und Massen-Abrisse (Wassertorplatz, Kottbusser Tor etc.) darüber hinaus utopische "Verkehrsschneisenpläne". Aus Protest gegen die bevorstehenden Massenabrisse bildete sich die
West-Berliner Hausbesetzerszene und es konnten so - bis in die achtizger Jahre hinein - einige Altbauten vor dem Abriss gerettet bzw. Instandgesetzt (ab 1979 "Instandbesetzungen" im SO36) werden.
Häuserkampf in Frankfurt am Main, Bürgerproteste und das Städtebauförderungsgesetz
Nicht weniger extrem: die spekulationsbedingten Massen-Abrisse historischer Villenbauten im Frankfurter Westend, die 1970-74 zu Hausbesetzungen und zum "
Frankfurter Häuserkampf" führten. Auch für das
Bremer "Viertel" am Stein- und Ostertor wurde von dem damaligen Planern ein wahnwitziger Plan entworfen: Eine 120m breite Autoschneise - gesäumt mit Hochhausbauten - sollte entlang der historischen Mozartstraße führen. Nur durch Bürgerproteste konnten die Trassen-Pläne 1973 endgültig gestoppt werden. In
Hamburg gab es schon Mitte der 60iger Jahre kaum noch Altbaubestand. Nach Masenabrissen in St. Pauli-Süd, St. Georg, im Gängeviertel und in Altona-Altstadt, sollte auch das fabrikgesäumte Ottensen modern umgeformt werden - dank Bürgerproteste wurden die Pläne gestoppt. Ein Dank gebührt auch dem Mäzen Alfred Toepfer - er ermöglichte die Rekonstruktion großbürgerlicher Wohnhäuser rund um die
Peterstraße in Hamburg. Diese Häuser standen ursprünglich an verschiedenen Stellen der Altstadt und wurden zu einer historischen Traditionsinsel 1966-1982 - wenn auch an falscher Stelle - zusammengefügt (s. auch
Carl-Toepfer-Stiftung). Nach Einführung des
Städtebauförderungsgesetz 1971 (zuvor Fördererung in Modellstädten seit 1969) wurden bis 1990 zumindestens viele Stadtkerne in Deutschland saniert (s. auch
Wikipedia-Artikel "Städtebauförderung"). Auch in der ehemaligen DDR gab es zunehmend auch Sanierungsprogramme - wie z.B. in Bautzen in den Jahren 1972-75 und mit der Sanierung der Traditionsinsel rund um die Scharrenstraße 1975/76 in Berlin. 1974 schuf die sozialliberale Koalition mit dem "Gesetz zur Regelung der Miethöhe" ein Gesetz gegen Mietwucher und begrenzte somit das Wirken von
Immobilienspekulanten wie z. B. Kaußen in Köln.
1975-1988 Aufbruch in den Denkmalschutz
Anfang der siebziger Jahre wurde der Abrisswahnsinn der 60iger Jahre unvermindert weiter geführt. In historische Stadtkerne wurden unmaßstäbliche Betonkästen für neue Kaufhäuser, Banken und Rathäuser eingefügt. Erst der dem Autozeitgeist entgegentretende Schock der Oelkrise 1973 und städebauliche Impulse von außen, 1975 ruft die Europäische Gemeinschaft das „Europäische Denkmalschutzjahr“ aus, führten zu einem ersten Umdenken der Stadtplaner in Deutschland. So werden ab Mitte der siebziger Jahre viele vormals vernachlässigte Altbauquartiere und historische Dorfkerne behutsam saniert.
Statt Zeilen- und Hochhausbau wird mit dem Block 270 (Bauzeit 1974-77) von Kleihues, erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder eine konsequente Blockrandbebauung in Berlin verwirklicht. Der abrissgefährdete Martin-Gropius-Bau an der Berliner Mauer wird 1978 durch bürgerliches Engagement endlich wieder aufgebaut. Und mit der IBA 1984 in Berlin (1979-1987 "Kritische Rekonstruktion", Kleihues u. 1979-1985 "Behutsame Stadterneuerung", Hämer u.a. mit der Würdigung der "Kreuzberger Mischung" aus Wohnen und Arbeiten) gibt es eine Bauausstellung für stadtgerechtes Bauen in Berlin.
In Frankfurt/M. wird 1981 die Alte Oper und die Ostzeile (Samstagsberg) auf dem Römer (1981-1986) und in Hildesheim das Knochenhaueramtshaus (1986) wieder errichtet. 1986 scheitert nur knapp ein Bürgerbegehren in Mannheim für die Rekonstruktion des Alten Stadthauses. Bundesweit entstehen immer mehr Bauten im Zuge einer "postmodernen" kritischen Rekonstruktion und nehmen dabei auch historische Bauzitate in den Neubauten auf. Doch der Zerstörungswahn ist in Deutschland nicht gänzlich gestoppt: Vor dem Abriss der historischen Schokoladenfabrik Stollwerck kommt es ab 1980 zu Protesten und Besetzungen engagierter Kölner Bürger. Und auch die geplante Tilgung der gründerzeitlichen Bebauung an der Hamburger Hafenstraße führten ab 1981 zu Protesten und Besetzungen. Trotz Protesten wird 1988 ein großer Teil des historischen Floratheaters - der denkmalgeschützte Crystallpalast von 1890 abgerissen. Die "Rote Flora" wird seitdem als autonomes Zentrum besetzt.
Städtebaupolitik in der ex-DDR
Ein Kapitel für sich stellt die Aufbau- und Abrisspolitik in der ehemaligen DDR dar: Während viele Gebäude behutsam nach dem Krieg restauriert wurden, gab es auf der anderen Seite eine rigorose Verwahrlosung von historischen Stadtkernen zugunsten von modernen Plattensiedlungen an den Stadträndern. Die Äußere Neustadt in Dresden konnte nur Aufgrund von Bürgerprotesten Ende der achtziger Jahren vor dem Abriss gerettet werden. Doch Mitte der achtziger Jahre kommt es auch in der ehemaligen DDR zu vermehrten Rückgriffen auf die Wiederherstellung historische Stadtgefüge - so wird 1985 die aufwendig wieder aufgebaute Semperoper in Dresden wiedereröffnet und es beginnt die Wiederherstellung des zerstörten Dredner Residenzschlosses. 1987 wird das Nikolaiviertel und damit ein Stück Altstadt - zur 750-Jahrfeier in Berlin wieder aufgebaut und die gründerzeitliche Husemannstraße im Prenzlauer Berg als Vorzeigeobjekt aufwändig saniert.
1989-bis heute: Alte Stadtbilder in einer globalen Welt
Die Epoche der jahrzehntelangen Stadtzerstörungen führt nach dem
Mauerfall 1989 in ganz Deutschland zu einer besonderen Zuwendung zum Althergebrachten und zum traditionellen Bauen (u.a.
Hotel Adlon, Berlin - Patzschke 1997) und zum Bestandsschutz (s. z.B. die Konversion des
Zeiseareals in
Hamburg-Ottensen 1989). Für einige Innenstädte in den neuen Bundesländern kam der Mauerfall in letzter Minute - vieles war vom endgültigen Verfall bedroht und ganze Quartiere wie z.B. im
Prenzlauer Berg in Berlin, rund um die
Biedermannstraße in Leipzig-Connewitz, die Äußere Neustadt in Dresden und das
Andreasviertel in Erfurt uvm. standen auf der Abrissliste. 1991-2005 wurden 162 Städte in den neuen Bundesländern mit dem Programm "
Städtebaulicher Denkmalschutz" gefördert. Auch die Menschen vor Ort intensivierten in Ost- und West ihr Engagement für den Erhalt historischer Städte: 1996 stimmten, im bisher einzigen Nürnberger Bürgerentscheid, die Bürger gegen die modernistischen Neubaupläne mit Jahn-Entwürfen am
Augustinerhof. In Berlin - in dem es viele, traditionell bauende Architekten gibt - gab es zunächst den
Berliner Architekturstreit (Lampugnani, 1993). Später setzte der Senatsbaudirektor
Stimmann im „
Planwerk Innenstadt“ eine kontextbezogene Stadtplanung mit
kritischen Rekonstruktionen durch. Nach langer Diskussion stimmt im Juli 2002 der Bundestag sogar für einen unmittelbaren
Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses als Humboldt Forum (Fertigstellung 2020) und 2005 wurde die wiederauferstandene
Frauenkirche in
Dresden geweiht.
Doch nur wenige Jahre später werden die bundesdeutschen Städte von einer erneuten Abrisswelle erfasst. Im Zeichen der Globalisierung werden weltweit die Städte mit austauschbarer „
Investorenarchitektur“ überzogen und immer mehr überdimensionierte
Einkaufscenter fressen sich im Zuge einer "modernen Gründerzeit" selbst in historische Stadtzentren hinein. Zudem werden in ganz Deutschland zunehmend viele historische Fassaden durch zweifelhafte
Wärmedämmungsmaßnahmen zerstört. Doch es gibt auch einen Lichtblick: 2007 wird die
Charta von Leipzig von den für Stadtentwicklung zuständigen EU-Ministern verabschiedet. Darin wird ein Leitbild zur
"Renaissance der Städte" verfasst - die 1933 verfasste "Charta von Athen" mit dem Leitbild der "funktionalen Stadt" ist damit eigentlich überholt.
Stadtumbau und interationaler Stil
Ende des 2000er Jahrzehnts formiert sich, unterstützt von den Vernetzungsmöglichkeiten digitaler Medien, ein breiter
bürgerlicher Protest gegen den abrisswütigen
Stadtumbau in den schrupfenden Städten der neuen Bundesländer und gegen stadtbildunverträgliche Neubauprojekte des wiederbelebten "
Internationalen Stils" in ganz Deutschland. So wurde erfolgreich gegen die Abrisspläne des historischen
Gängeviertels in Hamburg protestiert. Doch nicht immer ist der Protest erfolgreich: So scheiterte 2011 in Schweinfurt ein Bürgerbegehren gegen den Abriss des im Bauhaus-Stil erbauten "
Alten städtischen Krankenhauses" und auch die Magdeburger Bürger stimmten in einem Bürgerentscheid gegen den Wiederaufbau der
Ulrichskirche in Magedeburg. Gleichzeitig gibt es, nachdem bereits
Braunschweig seine
Schlossfassade und
Hildesheim seinen "
umgestülpten Zuckerhut" erhalten hat, auch weitere erfreuliche Wiederaufbau-Aktivitäten. So wurde das
Postdamer Stadtschloss und das
Schloss Herrenhausen in Hannover wiedererrichtet und auch das
Palais Thurn und Taxis in Frankfurt/M. ist wiederauferstanden. Des Weiteren sind der
Teilaufbau der Altstadt in Frankfurt/Main und die
Rekonstruktion der Alten Post in Potsdam in konkreter Planung/Umsetzung. Zudem können - insbesondere in
Berlin - eine Reihe von
Architekten für den Anfang der neunziger Jahre in den USA aufgekommenen "
New Urbanism" gewonnen werden - einem traditionellen Baustil, der im Einklang mit der urbanen Stadt steht und auch erfolgreich in Großbritannien und den Niederlanden etabliert wurde.
Spätestens mit der Ausstellung "
Geschichte der Rekonstruktion - Konstruktion der Geschichte" 2010 in der Pinothek der Moderne in München wird das Thema Rekonstruktion in Deutschland neu bewertet: Rekonstruieren ist wieder "erlaubt", denn die Geschichte hat gezeigt, dass es schon immer - in allen Kulturen der Welt - Rekonstruktionen gab.
Erreichtes und Ausblick
Auch der theoretische Unterbau für die Erhaltung und Errichtung lebenswerter Städte wurde 2010 in die Wege geleitet: Auf der "Konferenz zur Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt" in Düsseldorf, wurden "
10 GRUNDSÄTZE ZUR STADTBAUKUNST HEUTE" (s.
10 Grundsätze) verabschiedet. Für die Zukunft stehen viele wünschenswerte Rekonstruktionen (u.a.
Pellerhaus in Nürnberg,
Altes Rathaus in Halle) verlorener Baukultur an, für die sich Initiativen vor Ort stark machen.
Wohnungsnot und Sanierungsnotstand
Die Innenstädte sind indessen so attraktiv wie nie - die Einwohnerzahlen von Berlin, Frankfurt/M., München, Hamburg etc. wachsen. Es herrscht
Wohnungsnot - neu gebaut wird hauptsächlich im Luxussegment - hochwertig und teuer. Insgesamt hat sich dadurch die Bauqualität verbessert, aber auch für bezahlbaren Wohnraum sollten die Architekten und Bauherren zukünftig einen hohen gestalterischen Maßstab anlegen. Besonders
Luxus-Wohntürme boomen in den Städten und bedrohen das Stadtbild. Und der
Stadtumbau Ost - bei dem durch staatliche Abrissprämien schon über 100.000 historische Bauten z. B. in Chemnitz und Leipzig vernichtet wurden - geht leider vielerorts unverdrossen weiter. Statt, bis die Stadtbevölkerung wieder zunimmt, ein Konzept der Zwischennutzung (der "waiting city") zu verfolgen, werden - unterstützt durch staatliche Abrissprämien - immer noch ganze Quartiere weggerissen.
Von den aktuell rund 1,3 Millionen
Kulturdenkmälern in Deutschland sind ein Drittel sanierungsbedürftig oder sogar in ihrem Bestand gefährdet. Es gibt also in Sachen Schutz der Stadtbaukultur noch viel zu tun in Deutschland. Möchte man den Bestandsschutz in Deutschland wirklich ernst nehmen, so dürfte kein Haus, dass älter als 100 Jahre alt ist mehr abreissen und auch Fassadenverunstaltungen, z. B. durch
Wärmedämmmaßnahmen müssten für diese Altbauten verboten werden. Doch nicht nur die alten Häuser sind gefährdet: 2012 wurden in Berlin 8.000 alte
Gaslaternen der 50iger Jahre ausgetauscht. Von 1999 bis 2010 verschwanden zudem 300.000 Quadratmeter
Kopfsteinpflasterstraßen unter Berliner Asphalt. So stirbt jeden Tag ein Stück altes Berlin. Nur durch bürgerschaftliche Engagement in Vereinen und Initiativen wie dem bundesweiten Verein "
Stadtbild Deutschland" kann die weitere Zerstörung der historischen Städte verhindert werden.
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Literaturtipps:
- Dehio Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, ab 1905
Kriegszerstörung
- "Kriegsschicksale Deutscher Architektur" (behandelt "West-Deutschland").
- "Schicksale Deutscher Baudenkmäler im 2. Weltkrieg" (behandelt die ehem. DDR).
- "
A blessing in Disguise" - War and Town Planning in Europe 1940 –1945"
- "
Luftkrieg und Literatur", Winfried G. Sebald, 2002.
- "Der Brand - Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945", Jörg Friedrich.- "Träume in Trümmern", Stadtplanung 1940-50, Werner Durth, Niels Gutschow
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Standardwerke zur frühen Kritik an Stadtzerstörung
- Jane Jacobs: The Death and Life of Great American Cities 1961 / Auf Deutsch: Tod und Leben großer amerikanischer Städte, 1963
- Wolf Jobst Siedler. "Die gemordete Stadt. Abgesang auf Putte und Straße, Platz und Baum", Siedler Verlag, 1964/1993.
- Alexander Mitscherlich mit "Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Anstiftung zum Unfrieden", 1965
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Stadt- und Architekturkritik
- "Ein romantischer Rationalist. Architekt und Stadtplaner", Rob Krier, Hrsg. Ursula Kleefisch- Jobst, 2005.
- "Urbanität und Dichte", Wolfgang Sonne
- "Glück und Architektur", Alain de Botton, 2010.
- F. Bielka, Chr. Beck (Hrsg.): Verantwortung für die Stadt. Beiträge für ein neues Miteinander, 2012.
- "Zone Heimat - Altstadt im modernen Städtebau", Gerhard Vinken, 2010.
- „Zur Alltagstauglichkeit unserer Städte“, Andreas Feldtkeller.
- „Die Stadt und das Auto“, Gert Kähler.
- "The Rise of the Creative Class", Richard Florida, 2002.
- "Triumph of the City", Ed Glaeser, 2011.
- "Städte für Menschen", Jan Gehl
- "Die Stadt im 20. Jahrhundert", V.M. Lampugnani
-
Wider das heutige Bauen: Und wir nennen diesen Schrott auch noch schön, FAZ, Martin Mosebach
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Stadtbaukunst
- Christoph Mäckler: Stadtbaukunst - Dortmunder Vorträge 1, Niggli Verlag, 2009.
- Der Wert stilgeprägter Architektur, Mader/Thießen
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Leipzig
- 5 Jahre LEIPZIG CHARTA - Integrierte Stadtentwicklung als Erfolgsbedingung einer nachhaltigen Stadt, Brosch., 2012.
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Berlin
- „Ideen für Berlin“, Floran Mausbach.
- "Kreuzberg 1968-2013. Abbruch, Aufbruch, Umbruch", Dieter Kramer.
- "Armutszeugnisse - West Berlin vor der Stadterneuerung in den sechziger Jahren", Heinrich Kuhn
- "Stadterneuerung in Berlin - Sanierung und Zerstörung vor und neben der IBA".
- "Berlin Nordost 1972-1990 - Am Rande der stehenden Zeit", Manfred Paul (mit Bildern Prenzl. Berg)
- "Schnörkellos: Die Umgestaltung von
Bauten des Historismus im Berlin des 20. Jahrhunderts", Hans Georg Hiller von Gaertingen, 2011.
- "Städtebau in Berlin", Harald Bodenschatz
- "Abgerissen! Verschwundene Bauwerke in Berlin", Arnt Cobbers
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Hamburg
- "Ein seltsam glücklicher Augenblick". Zerstörung u. Städtebau in Hamburg 1842 u. 1943
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Lübeck
- "Heimat in Trümmern" - Städtebau in Lübeck 1942-1959
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Frankfurt/M.
- J. Roth: „z.B. Frankfurt – Die Zerstörung der Stadt“
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Seit Jahrhunderten bereits kennt die Baukultur Rekonstruktionen - empfohlen seien dazu folgende Werke:
- Winfried Nerdinger: "Geschichte der Rekonstruktion - Konstruktion der Geschichte", 2010.
- Michael Braum: Rekonstruktion in Deutschland: Positionen zu einem umstrittenen Thema, 2009.
- Denkmalpflege statt Attrappenkult: Gegen die Rekonstruktion von Baudenkmälern - eine Anthologie, 2010.
- Neue Stadtbaukultur: Jahrbücher von Stadtbild Deutschland
- Rekonstruktion in Deutschland, Bundesstiftung Baukultur, 2009.
- Philipp Maaß, Die moderne Rekonstruktion, 2015.
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Stadtbaugeschichte:
https://de.wikipedia.org/wiki/Stadtbaugeschichte